Kunst als Lebensmittel

Seit Mitte der 60-er Jahre habe ich intensiv Figuren und Gegenstände aus der Vorstellung gezeichnet. Einer siebzigjährigen pensionierten Kunstdozentin, Elisabeth Bess (1898-1970), habe ich meine Arbeiten gezeigt. Sie selbst arbeitete spätexpressionistisch. Sie hat mir sehr geholfen, mich in der aktuellen Kunst der sechziger Jahre zu orientieren. Wir haben gemeinsam Ausstellungen der Kestnergesellschaft in Hannover besucht. Elisabeth Bess malte jeden Sommer an der Küste in Neuharlinger Siel Schiffe und Hafenansichten – in Erinnerung an ihre Heimat Westpommern.
Sie war als junge Frau mit der pommerschen Malerin Elisabeth Büchsel befreundet. Büchsel ist bekannt für ihre Bilder von der Pommerschen Küste, vergleichbar mit der Malerei in Worpswede um die Jahrhundertwende. Intensiven künstlerischen Austausch hatte ich auch mit meinem Lehrer Karl-Heinrich Greune (*1933), inzwischen Professor der Malerei an der Kunsthochschule in Bremen. Diese sehr unterschiedlichen Vorbilder haben mich ermutigt selbst mit unterschiedlichen Techniken und Motiven zu experimentieren. Die letzten Jahre meiner Schulzeit habe ich besonders intensiv gezeichnet. Diese Skizzen im Oktav habe ich in Ringheftern zusammengestellt. Ich hatte dafür ein besonderes Ringbuch als Skizzenbuch für Tuschfüller-Zeichnungen, in dem ich auch unterwegs regelmäßig gezeichnet habe. An einer Staffelei in meinem Zimmer habe ich auf größeren Kartonbögen figürliche Temperabilder gemalt. Ich habe dort eine eigene Technik der Malerei mit Tempera und Dispersion entwickelt. Diese ist vergleichbar mit der heutigen Acrylmalerei. Mein Interesse in der Kunstgeschichte galt Bildern von Henry Rousseau und den neoklassizistischen Frauenfiguren von Fernand Leger.
Ich habe überwiegend gegenständlich, selbst erfundene Figuren und Landschaften entworfen, meistens phantastische Themen. In den Skizzen gab es auffallend viele romantische Frauenfiguren. Stilistisch interessiert haben mich die Gemälde von Graham Sutherland mit seinen bioamorphen Strukturen. Später wurden meine Bilder kleinteiliger. Damit begann meine Begeisterung für Hieronymus Bosch.
Weitere Anregungen boten die Ausstellungen in der Kestnergesellschaft. Meine Federzeichnungen wurden beeinflusst von den Federzeichnungen Alfred Kubins. Ein prägendes Erlebnis für mich war die große Einzelausstellung Richard Oelzes in der Kestnergesellschaft. Seine gegenständlich ausgearbeiteten Strukturen, in altmeisterlicher Lasurtechnik gemalt, haben mich absolut begeistert. Das hatte auch Einfluss auf meine Zeichnungen. Dichte Strukturen aus feinen Linien bildeten im weiteren Verlauf phantastische Figuren und Landschaften. Beim spontanen Zeichnen hat sich dies bis heute erhalten.
Diese intensive selbstentwickelte Maltechnik habe ich ohne Anleitung selbst organisiert. Dabei fühlte ich mich ganz bei mir, so dass ich mich mit meinen eigenen Arbeiten gut gegenüber meinen Vorbildern behaupten konnte. In meinem Wunsch, Kunst zu studieren, wurde ich von Bess und Greune unterstützt. Das war Anreiz für mich, noch intensiver zu arbeiten. Deshalb habe ich für mich im letzten Schuljahr im Gartenhaus auf dem elterlichen Grundstück ein Atelier eingerichtet. Diese sehr persönliche Art des Zugangs zur Kunst führte dazu, dass die Konzentration aufs „Bilder machen“ mir auch in späteren Lebenskrisen sehr geholfen hat. Dieses „bei sich sein“ hatte für mich immer eine große Bedeutung. Meine eigene Bilderwelt war dann stets ein sicheres Rückzugsgebiet: Bilder machen war „Überlebensmittel“.